Einleitung
Es gibt Stimmen, die hallen nach. Nicht, weil sie laut waren, sondern weil sie das Unsagbare berührten. Alan Watts war eine dieser Stimmen. Ein britischer Philosoph, Theologe, Zen-Erklärer, ein Brückenbauer zwischen Ost und West, Rationalität und Intuition, Wissenschaft und Spiritualität. Er sprach über das Leben wie ein Musiker über das Instrument, das ihn spielte – mit einem Lächeln, mit Schärfe, mit einer Unbestechlichkeit gegenüber jeder dogmatischen Verkrampfung.
Watts wurde bekannt durch seine Vorträge, in denen er über Taoismus, Buddhismus, Hinduismus und westliche Psychologie sprach, ohne sich je in einer dieser Welten zu verlieren. Für ihn war die Welt kein Problem, das man lösen muss, sondern ein Tanz, der erfahren werden will. Er war kein Lehrer im klassischen Sinne. Eher ein Provokateur der Wahrnehmung, ein Entlarver falscher Fragen, ein Versöhner mit dem, was ist.
Aber wie käme es zu einem Interview mit Alan Watts – im Jahr 2025?
Vielleicht… träumen wir. Oder vielleicht erlaubt uns die Zeit, sich für einen Moment selbst aufzulösen. Und vielleicht ist genau das, was Alan immer meinte: Dass alles nur ein Spiel des Bewusstseins ist – auch dieses Gespräch.
Also gut.
Setzen wir uns. Lassen die Begrenzungen hinter uns. Und fragen ihn das, was viele sich schon oft gefragt haben, aber niemand wirklich beantworten konnte. Bis jetzt.
Wenn das Leben kein Ziel hat – sondern ein Tanz ist
Dominik: Alan, was glaubst du ist der Sinn des Lebens?
Alan Watts:
Ah, der berühmte „Sinn des Lebens“ – die Lieblingsfrage aller Philosophiestudenten bei schlechtem Wetter. Weißt du, die eigentliche Schwierigkeit liegt nicht darin, die Antwort zu finden, sondern in der Frage selbst. Die Frage geht nämlich davon aus, dass das Leben etwas sei, das zu etwas anderem führt – als ob es ein Mittel zu einem Zweck wäre.
Aber das Leben ist kein Mittel. Es ist der Zweck.
So wie ein Tanz. Niemand tanzt, um am Ende der Tanzfläche anzukommen. Der Tanz ist der Sinn. Der Moment. Die Bewegung selbst. Wenn du Musik hörst, wartest du doch auch nicht darauf, dass sie endlich vorbei ist. Du genießt sie. Du bist sie, solange sie klingt.
Das Problem ist: Wir sind aufgewachsen in einer Welt, in der alles ein Ziel haben muss. Schule, Arbeit, Beziehungen – alles wird auf Effizienz getrimmt. Selbst unser Urlaub ist oft ein Projekt. Aber das Leben ist nicht hier, um optimiert zu werden. Es ist hier, um erlebt zu werden. Ohne Rechtfertigung. Ohne Leistungsnachweis. Ohne Gebrauchsanleitung.
Sobald du das verstehst – also wirklich verstehst –, hörst du auf, ständig zu fragen „Warum?“. Du beginnst, einfach nur da zu sein. Und das, mein Lieber, ist bereits genug.
Dominik: Was sind Religionen für dich?
Alan Watts:
Religionen sind wie Boote. Manche bringen dich über den Fluss, andere haben ein Leck. Aber die meisten Menschen steigen nie aus – sie bauen eine Kirche auf dem Boot und halten das Ufer für eine Sünde.
Versteh mich nicht falsch: Religionen sind nicht böse. Sie sind Werkzeuge. Der Buddhismus, das Christentum, der Islam – sie alle enthalten tiefe Wahrheiten. Aber sobald der Mensch anfängt, das Symbol mit der Realität zu verwechseln, beginnt der Wahnsinn. Du fängst an, den Finger zu verehren, der auf den Mond zeigt – und vergisst den Mond.
Die Wahrheit ist keine Lehre, sie ist eine Erfahrung. Ein inneres Erkennen. Und keine Religion kann dir diese Erfahrung geben. Sie kann dich nur darauf vorbereiten. So wie ein Kochbuch dich nicht satt macht – du musst selbst essen.
Viele Religionen haben sich von lebendiger Erfahrung zu totem Ritual entwickelt. Von innerer Einsicht zu äußerem Gehorsam. Wenn du mich fragst, ist wahre Religion nicht, was du glaubst – sondern wie tief du fühlst, wie klar du siehst und wie frei du lebst.

Dominik: Was glaubst du passiert nach dem Leben?
Alan Watts:
Ah, das große Danach. Das Finale. Der Vorhang. Oder doch nicht?
Weißt du, die Frage „Was passiert nach dem Tod?“ ist seltsam, weil sie stillschweigend annimmt, dass „du“ von deinem Körper getrennt bist. Dass es da ein „Ich“ gibt, das das Leben erlebt, und dann irgendwo anders hingeht, wenn der Vorhang fällt. Aber wer bist du denn wirklich? Bist du dein Name? Dein Beruf? Deine Erinnerungen?
Das Bewusstsein, das du gerade benutzt, um diese Frage zu stellen, ist dasselbe Bewusstsein, das in einer Katze schnurrt, in einem Vogel singt, in einer Welle rauscht. Es ist kein persönliches Bewusstsein. Es ist das Bewusstsein.
Wenn dein individueller Ausdruck endet – wie eine Welle, die wieder ins Meer fällt – bleibt das Meer. Du gehst nicht irgendwohin. Du bist immer noch da – nur nicht in der Form, die du gewohnt warst.
Der Tod ist kein „Fehler“ des Lebens. Er ist Teil seines Rhythmus.
Wie die Pause in der Musik. Ohne sie gäbe es keinen Takt.
Dominik: Woher bist du dir so sicher, dass das, was du glaubst, auch wirklich so ist?
Alan Watts:
Ich bin mir nicht sicher. Und das ist meine größte Freiheit.
Sicherheit ist die Lieblingsdroge des kontrollsüchtigen Geistes. Sie gibt dir das Gefühl, alles im Griff zu haben – aber sie tötet die Neugier. Die Offenheit. Die Magie.
Ich glaube gar nichts – ich erkenne. Und selbst das nur für den Moment. Erkenntnis ist wie das Licht eines Blitzes: kurz, aber erhellend. Und du brauchst nicht den ganzen Pfad zu sehen. Nur den nächsten Schritt.
Was ich dir sage, ist keine Wahrheit mit großem T. Es ist eher ein Fingerzeig, eine Einladung, eine Möglichkeit. Wenn sie dich anspricht, geh weiter. Wenn nicht, wirf sie weg. Ich bin kein Guru. Ich bin ein Spiegel. Und vielleicht siehst du darin etwas, das du längst wusstest, aber vergessen hattest.
Dominik: Denkst du, die Einsamkeit kann uns helfen? Laut Nietzsche und C.G. Jung ist sie nötig für Wachstum. Was sagst du?
Alan Watts:
Oh, die Einsamkeit! Was für ein kostbares, gefürchtetes, missverstandenes Geschenk.
Wir verwechseln Einsamkeit oft mit Verlassenheit. Aber sie sind nicht dasselbe. Verlassenheit ist das Gefühl, dass du getrennt bist von allem. Einsamkeit hingegen ist der Raum, in dem du erkennst, dass du alles bist.
Nietzsche hatte recht: Wer sich selbst finden will, muss bereit sein, sich selbst zu begegnen. Ohne Ablenkung. Ohne Applaus. Ohne Maske. Und das geht nur in der Stille. C.G. Jung sprach von der Integration des Schattens – und wo, wenn nicht in der Einsamkeit, kannst du deinen Schatten wirklich anschauen?
Wenn du niemals allein sein kannst, bist du niemals du selbst. Dann bist du nur die Summe der Erwartungen anderer. In der Einsamkeit stirbt das falsche Ich – und etwas Echtes, Wildes, Wahrhaftiges erwacht.
Also ja: Geh in die Einsamkeit. Aber nicht, um dich zu verlieren – sondern um dich wiederzufinden.
Über das Ego, die Arbeit, das Menschsein – und warum du keine Maschine bist
Dominik: Alan, was ist das „Ich“? Wer bin ich eigentlich?
Alan Watts:
Ah – das große Ich. Das liebe Ichlein. Die ständige Stimme im Kopf, die alles kommentiert: „Das gefällt mir. Das nicht. Ich bin müde. Ich bin wütend. Ich will mehr.“
Aber was, wenn ich dir sage, dass dieses „Ich“ nicht mehr ist als ein Geräusch?
Eine Rückkopplung des Denkens, ein Symbol für eine Funktion – nicht das Original.
Stell dir einen Messer vor, das sich selbst schneidet. Oder ein Auge, das sich selbst sieht. Es geht nicht. Aber du versuchst dein ganzes Leben lang, dich selbst zu „verstehen“.
Das „Ich“ ist ein Konzept. Ein Sprachwerkzeug. Es gibt dir die Illusion von Trennung, damit du dich im Spiel des Lebens orientieren kannst. Aber du bist nicht das Ego. Du bist der Prozess. Der Tanz. Die Welle, die aus dem Meer kommt und zurück ins Meer fließt.
Solange du glaubst, ein getrenntes „Ich“ zu sein, das denkt, fühlt, entscheidet – lebst du in einer Geschichte. Sobald du erkennst, dass du nicht das „Ich“ bist, sondern das ganze Erleben selbst, hörst du auf, dich ständig zu fragen „Wer bin ich?“ – und fängst endlich an, zu sein.
Dominik: Warum leiden so viele Menschen heute an ihrer Arbeit?
Alan Watts:
Weil wir vergessen haben, warum wir arbeiten.
Früher arbeiteten Menschen, um zu leben. Heute leben sie, um zu arbeiten. Arbeit wurde zum Dogma, zum Selbstzweck. Wenn du nicht produktiv bist, bist du wertlos – sagen sie. Aber wer hat das beschlossen?
In vielen alten Kulturen wurde Arbeit als Teil des Lebens gesehen – nicht als Zweck. Ein Fischer fischte nicht, um reich zu werden. Er fischte, weil er aß. Und weil das Meer rief. Heute hingegen…
Du gehst in ein Büro, tippst Zahlen in Maschinen, optimierst Prozesse, die du nicht verstehst, um Dinge zu verkaufen, die du nicht brauchst, an Menschen, die du nicht kennst.
Das Problem ist nicht Arbeit an sich – sondern die Entfremdung.
Wenn du tust, was du liebst, ist Arbeit kein Zwang, sondern Ausdruck. Aber wenn du nur tust, was du musst, um am Ende etwas zu bekommen, das du vielleicht nicht mal brauchst, dann…
ja, dann ist es ein Gefängnis.
Wenn ich dich frage: Was würdest du tun, wenn Geld keine Rolle spielte? – und du sagst „etwas ganz anderes“ – dann weißt du, dass du dich verkaufst.
Dominik: Was hältst du von Fortschritt und Technologie?
Alan Watts:
Technologie ist wie Feuer. Sie kann dein Haus wärmen – oder es niederbrennen.
Das Problem ist nicht die Technik. Das Problem ist das Bewusstsein, das sie benutzt.
Wir bauen Raketen zum Mars – aber wissen nicht, wie wir miteinander reden sollen. Wir entwickeln Künstliche Intelligenz – aber verstehen nicht mal unser eigenes Herz. Wir erschaffen digitale Götter – aber beten sie mit alten Ängsten an.
Technologie wird uns nicht retten. Sie wird uns nur beschleunigen.
Wenn du in die falsche Richtung rennst, hilft dir ein Sportwagen nicht – er bringt dich nur schneller ins Verderben. Der Fortschritt ist kein Fortschritt, wenn er nicht auch innerlich geschieht.
Und weißt du was? Vielleicht braucht es irgendwann weniger Knöpfe, weniger Geräte, weniger Lärm – und mehr Stille. Mehr echtes Zuhören. Mehr Menschsein.
Dominik: Was sagst du zu dieser neuen Welt voller Selbstoptimierung, Biohacking, Erfolgstrainings?
Alan Watts:
Oh, Selbstoptimierung – die Religion der Gegenwart.
Menschen werden zu Maschinen, die sich ständig aufrüsten müssen. Weniger Schlaf, mehr Fokus, mehr Produktivität, mehr Selbstdisziplin. Und wofür? Damit du schneller im Hamsterrad rennst? Besser funktioniert – als Zahnrad in einer kaputten Maschine?
Wenn ich dir sage, dass du gut bist, wie du bist – glaubst du mir das? Oder glaubst du, du musst „besser“ werden?
Sie haben dir eingeredet, dass du nicht genügsam sein darfst. Dass du ein „Projekt“ bist. Dass du „mehr“ werden musst.
Aber mehr wovon?
Mehr Ego? Mehr Muskeln? Mehr Klicks?
Weißt du: Ein Baum denkt nicht darüber nach, wie viel er leisten muss. Er wächst. Still. Natürlich. Er ist. Und genau das ist seine Schönheit.
Dominik: Was wäre deine wichtigste Botschaft an die heutige Menschheit?
Alan Watts:
Du bist kein Getrennter.
Du bist kein Fehler.
Und du musst dich nicht retten.
Du bist das Universum – das sich selbst in einer ganz bestimmten Form erlebt.
Du bist nicht in der Welt. Du bist die Welt.
Nicht als Konzept, sondern als Tatsache.
Die Trennung zwischen dir und „dem Anderen“ ist eine Illusion.
Die Angst, dass du „nicht genug“ bist, ist ein Missverständnis.
Und die Jagd nach Bedeutung ist nur nötig, solange du glaubst, du seist „jemand“, der Bedeutung braucht.
Wenn du innehältst – wirklich innehältst – dann hörst du auf, zu suchen.
Und beginnst zu sehen. Zu fühlen. Zu lächeln.
Nicht, weil du etwas erreicht hast, sondern weil du dich erinnerst: Du warst immer schon zuhause.
Dominik: Und wenn du mit einer einzigen Aussage das kollektive Denken verändern könntest – was würdest du sagen?
Alan Watts:
„Lass los.“
Lass los, dich verbessern zu wollen.
Lass los, etwas darstellen zu müssen.
Lass los, immer zu wissen, was richtig ist.
Lass los, ständig auf der Suche zu sein.
Wenn du loslässt, wirst du nicht untergehen – du wirst getragen.
Von dem, was du immer warst:
nicht ein „Ich“ in der Welt,
sondern die Welt in einem „Ich“.
Fazit: Interview mit Alan Watts – und was du daraus für dich mitnehmen kannst
Das Interview mit Alan Watts ist keine Begegnung mit einem Lehrer im klassischen Sinne – sondern mit einem Spiegel. Ein Spiegel, der dir zeigt, dass du nie getrennt warst. Dass du nicht erst werden musst, um etwas zu sein. Und dass dein ganzes Streben nach Sinn nur deshalb existiert, weil du vergessen hast, dass du selbst der Ursprung bist.
Wenn man Alan Watts zuhört – oder ihn, wie hier, in einem imaginären Gespräch zu Wort kommen lässt –, spürt man eine merkwürdige Mischung aus Leichtigkeit und Tiefe. Seine Aussagen sind nicht dazu da, dich zu überzeugen. Sie sind dazu da, etwas in dir zu aktivieren, das bereits vorhanden ist: ein ursprüngliches, stilles Wissen, das weder von Religion noch Philosophie abhängig ist.

Er erinnert uns daran, dass wir keine Maschinen sind, die funktionieren müssen – und dass wir nicht in einer Welt leben, sondern die Welt selbst sind, die sich in menschlicher Form erfährt.
Wenn dich dieser Gedanke fasziniert, könnte dich auch unser Beitrag über die Illusion des Selbst und das moderne Ego-Spiel interessieren. Oder du vertiefst dich in das Thema der achtsamen Existenz jenseits gesellschaftlicher Illusionen.
Auch wenn dieses Interview mit Alan Watts fiktiv ist – alles, was er hier sagt, basiert auf echten Aussagen, Vorträgen und Schriften, die du selbst nachlesen oder anhören kannst. Einen Einstieg bietet dir z. B. die Alan Watts Foundation oder sein umfangreicher Wikipedia-Artikel. Viele seiner Original-Vorträge findest du auch als Audio auf YouTube – mit oder ohne Musikuntermalung.
Was bleibt also nach diesem Gespräch?
Vielleicht einfach ein kleiner Riss in der Oberfläche deiner Gedanken.
Ein Moment der Stille.
Oder ein Gefühl von: „Ja. Genau das.“
Wie auch immer du es nennst – Alan Watts hätte vermutlich nur gelächelt und gesagt:
„Jetzt hast du aufgehört zu suchen. Willkommen zuhause.“